- 1885 Flensburg – 1948 Sorengo bei Lugano/Kanton Tessin
- geborene Emma Maria Cordsen; verheiratete Emmy Ball-Hennings
- Namensvarianten: Emmi Hennings; Emsi Hennings; Emmy Hennings-Ball; Emmy Ball
- Pseudonyme: Charmette; Kobold; Dagny; Dagny Lund; Jette; Liane; Liane Zumsteg; Helga Londelius
Emmy Hennings war als Vortragskünstlerin eine schillernde Figur der Schwabinger Bohème vor dem Ersten Weltkrieg und entwickelte sich ab 1913 zu einer bedeutenden expressionistischen Schriftstellerin. 1916 gründete sie mit Hugo Ball (1886–1927) und weiteren Avantgardekünstler*innen das Cabaret Voltaire und gehörte zur Dada-Gruppe in Zürich. Bekannt wurde sie mit sozialkritischen Romanen und ihren Erinnerungen an Ball (s. Bibliographie). Ihre Lyrik ist expressionistisch und religiös, ihre spätere autobiografische Prosa von Humor und Empfindsamkeit geprägt.
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Hennings wuchs im Flensburger Arbeitermilieu auf und arbeitete nach dem Besuch der Mädchenschule von 1891 bis 1905 u. a. als Zimmermädchen und in einem Fotoatelier. Bereits früh war sie von einer Leidenschaft zum Theater und großem Freiheitsgefühl geprägt. Nach dem baldigen Ende einer aufgrund einer Schwangerschaft eingegangenen Ehe (1904–1907) zog Hennings mit kleinen Wandertheaterensembles durch Deutschland.
Um 1910 ließ sie sich in München nieder, trat in der Künstlerkneipe Simplicissimus auf und führte ein sexuell freies, selbstbestimmtes und unstetes Leben. Sie stand der anarchistischen Gruppe „Tat“ um Erich Mühsam (1878–1934) und Gustav Landauer (1870–1919) nahe und hatte enge Verbindungen zu den Mitgliedern des expressionistischen „Neuen Clubs“ in Berlin, v. a. Jakob van Hoddis (1887–1942), Wilhelm Simon Guttmann (1891–1990), Robert Jentzsch (1890–1918) und Georg Heym (1887–1912).
Nach einer schweren Typhuserkrankung konvertierte Hennings 1911 zum Katholizismus. 1912 begann sie, Gedichte zu publizieren und beteiligte sich an der von Heinrich F. S. Bachmair (1889–1960) herausgegebenen Zeitschrift „Revolution“, mit deren Beiträgern Johannes R. Becher (1891–1958), Hans Leybold (1892–1914), Klabund (1890–1928) und Hugo Ball (1886–1927) sie eng befreundet war. Franz Werfel (1890–1945), der auf Hennings’ literarisches Talent aufmerksam geworden war, veröffentlichte 1913 als Lektor des Kurt Wolff Verlags ihren ersten Gedichtband „Die letzte Freude“.
Ein vermutlich bereits 1910 begangener Diebstahl führte 1914 zu einer Gefängnishaft in München. Kurz nach ihrer Entlassung wurde Hennings fälschlich verdächtigt, dem Schriftsteller Franz Jung (1888–1963) zur Desertion verholfen zu haben und erneut einen Monat in Berlin inhaftiert.
Im Mai 1915 ging Hennings mit Ball nach Zürich, wo beide ein Engagement an einer kleinen Varietétruppe erhielten. Am 5. Februar 1916 eröffneten sie das Cabaret Voltaire, in dem unter Mitwirkung von Tristan Tzara (1896–1963), Marcel Janco (1895–1984), Hans Arp (1886–1966), Richard Huelsenbeck (1892–1974) und Marietta di Monaco (1893–1981) mehrere Monate lang experimentelle Literatur und Kabarettschlager vorgetragen wurden und das als Geburtsstätte des Dadaismus gilt.
Die sozialen Umstände (nicht aber die juristischen Ursachen) ihrer Gefängnishaft 1914 verarbeitete Hennings 1919 in ihrem Roman „Gefängnis“, der aufgrund seiner Kritik am Strafvollzugswesen als literarische Sensation gefeiert wurde. Ähnlichen Erfolg bei der Literaturkritik hatte sie 1920 mit dem Tagebuchroman „Das Brandmal“, in dem sie das Leben einer Schauspielerin, die sich auf der Straße und ohne Auskommen sieht, in düsterem Detailrealismus schilderte.
Nach einer weiteren lebensgefährlichen Krankheit, der Spanischen Grippe, heiratete sie im Februar 1920 Ball; aufgrund der ersten Ehe von Hennings wurde die Verbindung von der katholischen Kirche nicht legitimiert. In den folgenden Jahren zogen sich Hennings und Ball zunehmend aus dem Literaturbetrieb zurück, übersiedelten 1922 nach Agnuzzo (Kanton Tessin) und vertieften sich in die Schriften katholischer Mystiker, wie Mechthild von Magdeburg (um 1207–1282), aber auch Joseph Görres (1776–1848) und die von Clemens Brentano (1778–1842) herausgegebenen Aufzeichnungen der Anna Katharina Emmerich (1774–1824).
Hennings’ Gedichtband „Helle Nacht“ (1922) und der Prosamonolog „Das ewige Lied“ (1923) fanden deutlich weniger Beachtung als ihre früheren Bücher, und 1924, nach dem Konkurs ihres Verlegers Erich Reiß (1887–1951) bemühte sich Hennings erfolglos um Neuauflagen in anderen Verlagen. 1926 erschien das Reisebuch „Der Gang zur Liebe“, eine sensitive Hymne auf die katholische Kirche und die Stadt Rom, das Hennings während zweier längerer Italienaufenthalte in Florenz und Rom verfasst hatte. Das Buch wurde positiv besprochen, fand aber kaum Leser.
Hennings blieb durch die Veröffentlichung zahlreicher Reisereportagen, Gedichte und Rezensionen im Feuilleton, v. a. der katholischen Presse der Weimarer Republik, präsent; für ihre Bücher „Das graue Haus“ (1924) und „Das Haus im Schatten“ (1930) – weitere literarische Verarbeitungen ihrer Haft – fand sich jedoch zu ihren Lebzeiten kein Verleger.
Eine entscheidende Zäsur in Hennings‘ Leben bedeutete der Tod Balls, den sie geistig und spirituell tief beeinflusst hatte, im August 1927. Mit der vielbeachteten Briefausgabe „Hugo Ball. Sein Leben in Briefen und Gedichten“ (1929) und der Biografie „Hugo Balls Weg zu Gott“ (1931) schuf sie ihm postum ein Denkmal. Indem sie den persönlichen, alltäglichen Austausch und die Not und Entbehrungen ihres gemeinsamen Lebens in den Vordergrund stellte, überführte sie Balls widerspruchsvolle intellektuelle Entwicklung in die kohärente Biografie eines Gottsuchenden.
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 publizierte Hennings fast ausschließlich in der Schweiz. Zwei erfolgreiche Romanautobiografien über ihre Kindheit und Jugend („Blume und Flamme. Geschichte einer Jugend“, 1938) und ihr Wanderleben („Das flüchtige Spiel. Wege und Umwege einer Frau“, 1940) erschienen im Benziger Verlag. Hennings lebte ab 1938 zurückgezogen im Tessin, freundschaftlich eng verbunden mit Ninon Hesse (1895–1966) und Hermann Hesse (1877–1962), Ferdinand Hardekopf (1876–1954), Han Coray (1880–1974), Josef Bernhard Lang (1881–1945), Max Picard (1888–1965), Maria Geroe-Tobler (1895–1963) und Gunter Böhmer (1911–1986) sowie im Briefkontakt stehend u. a. mit Waldemar Gurian (1902–1954) und Felix Braun (1885–1973). Während des Zweiten Weltkriegs verdiente sie ihren Unterhalt v. a. durch Zimmervermietungen und Fabrikarbeit.
Postum erschienen Hennings’ Erinnerungen „Ruf und Echo. Mein Leben mit Hugo Ball“ (1953) und die von Annemarie Schütt-Hennings herausgegebenen „Briefe an Hermann Hesse“ (1956). Während diese Bücher in der Bundesrepublik, mit den publizierten Dada-Erinnerungen von Arp, Huelsenbeck und Hans Richter (1888–1976), das Ansehen von Hennings als treuer Gefährtin und Dichterfreundin festigten, gerieten ihre frühe Texte in Vergessenheit.
Im Zuge der 100-Jahrfeier der Dada-Bewegung in Zürich 2016 erhielt sie als wichtigstes weibliches Mitglied der Dada-Gruppe in Zürich wieder mehr Aufmerksamkeit, und in einer seit 2016 entstehenden Werkausgabe wurden bislang ihre frühen Prosatexte, ihre Lyrik und ihre zahlreichen Briefe an Zeitgenossen wieder allgemein zugänglich gemacht. Bis heute tritt die Rezeption ihres literarischen Werks hinter der anhaltenden Faszination für Hennings’ bewegtes und unkonventionell geführtes Leben zurück.
Quelle: Behrmann, Nicola, „Hennings, Emmy“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2023, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118665855.html#dbocontent; Hier finden sich viele weitere detaillierte Informationen zu Leben und Werk von Emmy Hennings.